Tour de France – Herzinfarkt oder grobe Langeweile

Ohne dass ich es verfolge, spekuliere ich einmal, dass die Herren Radprofis sich noch mit Flachetappen die Zeit totschlagen. Wie sich der Spannungsbogen entwickelt wenn es Richtung Ziel, in die Berge oder gegen die Uhr geht, wird heute erörtert. Was das alles soll, steht hier. Dort gibt es auch ein Inhaltsverzeichnis, welches sich ganz von Zauberhand langsam mit Links füllt.

6.2 Die drei Akte des Dramas
Die drei verschiedenen Etappentypen sind durch einen typischen Verlauf gekennzeichnet. Dieser beinhaltet natürlich einen besonderen Spannungsverlauf auf den die übertragenden Fernsehsender eingehen und ihn verstärken. Natürlich verläuft nicht jede Etappe nach dem gleichen Schema und Ergebnisse sind nicht vorhersehbar, ein bestimmtes Muster lässt sich allerdings erkennen. Nach den benannten Kriterien soll deshalb veranschaulicht werden, wie sich der Spannungsverlauf der Etappen typischerweise gestaltet. Als Basis dienen dafür nicht einzelne Teilstücke sondern die Gesamtheit der jeweiligen Etappentypen. Außergewöhnliche Ereignisse wie beispielsweise der Sturz vom Mitfavoriten Joseba Beloki auf einer Bergabfahrt in den Pyrenäen 2003 beeinflussen das Gesamtbild deshalb nicht.

6.2.1 Flachetappen.
Auf den Flachetappen halten sich die Favoriten zurück. Üblicherweise beginnen deshalb früh die Attacken der Teams, die auf einen Tagessieg spekulieren. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Fernsehsender mit ihrer Übertragung beginnen, fährt meistens schon eine Ausreißergruppe mehrere Minuten vor dem Hauptfeld. Der Vorsprung wächst stetig an. Die Gruppe harmoniert gut, sie haben das gemeinsame Ziel, vor dem Hauptfeld das Ziel zu erreichen. Die Kommentatoren haben genug Zeit die einzelnen Fahrer vorzustellen und über die Kandidaten mit den besten Chancen zu spekulieren.


Ab dem Zeitpunkt an dem die Sprinterteams die organisierte Verfolgung übernehmen, schrumpft der Vorsprung stetig. Die dezente Spannung ergibt sich aus dem nun offensichtlichen Kampf David (müde werdende Ausreißergruppe) gegen Goliath (scheinbar mühelos heranfliegendes Feld). Die Kommentatoren spekulieren über die immer geringeren Erfolgsaussichten.

Aus taktischen Gründen versucht das Hauptfeld auch immer, die Fluchtgruppe so spät wie möglich zu erreichen. Einerseits sparen sie natürlich Kraft, wenn sie erst später mit der Tempoarbeit beginnen. Andererseits wir so die Wahrscheinlichkeit geringer, dass kurz vor dem Ziel bei konstant hohem Tempo noch eine weitere Gruppe einen Ausreißversuch startet.

Der erste Höhepunkt der Spannungskurve ist also erreicht, wenn die Ausreißer ein letztes Mal verzweifelt versuchen, den Vorsprung doch noch einmal zu vergrößern und dann beim umschauen feststellen müssen, dass ihre Mühen umsonst waren. Das Hauptfeld schluckt die Gruppe und alles stellt sich dann auf einen Sprint ein.

Der einzige extreme Spannungshöhepunkt wird dann beim Massensprint erreicht. Diese letzten 1000 Meter einer Flachetappe sind der einzige Punkt bei der Tour de France, wo der Grundsatz maximale Aktion auf minimalem Raum zutrifft. Durch den unmittelbaren Kampf Mann gegen Mann in permanent hoher Geschwindigkeit und dem bis zum Schluss offenen und dann auch meistens sehr knappen Ausgang ergibt sich hier eine Spannung, die auf den gesamten vorherigen 200 Kilometer nie erreicht wurde. Durch das Reglement, das Zeitgutschriften für die ersten Fahrer vergibt und das begehrte Grüne Trikot wird die Wertigkeit dieser Zielankünfte noch erhöht.
Eine Flachetappe ist also eigentlich nur auf den letzten 10 Kilometern wirklich spannend. Der Nervenkitzel des Massenspurts wird mit 200 Kilometern Vorlauf vorbereitet, alles fokussiert sich auf die letzten Minuten. Da diese Etappen keinerlei Auswirkungen auf die Gesamtwertung haben, konzentriert sich alles auf die Entscheidung um den prestigeträchtigen Tagessieg. Es wird das Ideal des schnellsten Mannes im Feld stilisiert. Der Rausch der höchsten Endgeschwindigkeit und der besten Taktik auf den letzten Metern steht im Vordergrund.

Für den Fall das der Kampf um das Grüne Trikot des besten Sprinters sehr eng ist, haben auch die auf der Strecke liegenden Sprintwertungen einen gewissen Reiz, oft rollt allerdings die in Führung liegende Ausreißergruppe einfach über diese Markierungen hinweg und es kommt nicht zu Zwischenspurts.

Wenn die Ausreißergruppe vor dem Hauptfeld das Ziel erreicht und den Tagessieger unter sich ausmacht, verpufft die dramatische Energie meistens. Schon vor dem Ziel beginnen die taktischen Spielereien der Ausreißergruppe. Der Tagessieg ist für diese Fahrer der zweiten Reihe ein wichtiger Erfolg, spannungsgeladen sind diese Entscheidungen eher selten. Sie haben einen gewissen taktischen Reiz und auch die Bilder des jubelnden Sieger haben eine gewisse Emotionalität, weil es für diese Fahrer nicht selbstverständlich ist zu triumphieren. Allerdings fehlt die Explosivität der besten Sprinter des Feldes. Die Fahrer sind auch oft vorher nicht in Erscheinung getreten, sie sind dem Zuschauer nicht vertraut und interessieren ihn deshalb weniger. Deshalb wird der Sprint des verfolgenden Hauptfeldes auch immer noch mit übertragen. Obwohl es jetzt nur noch um Punkte für das Sprinttrikot geht, wird er mit unverminderter Härte bestritten und auch kommentiert.

6.2.2 Bergetappen
Bei den Bergetappen geht es um den Gesamtsieg bei der Tour. Hier kann ein Fahrer viel Zeit verlieren oder gewinnen. Schon im Vorfeld fokussiert sich alles auf die entscheidenden Anstiege. Auch hier versucht eigentlich immer eine Ausreißergruppe ihr Heil in der Flucht, ihr wird aber keine besondere Beachtung geschenkt. Früh liegt das Hauptaugenmerk auf den Favoriten, die sich anfangs noch belauern.

Selten fällt die Entscheidung während der ersten Anstiege. Allerdings ist das Tempo schon so hoch, dass immer mehr Fahrer, unter ihnen auch die Protagonisten der Flachetappen, abreißen lassen müssen. Die Inszenierung des Leidens beginnt. Deutlich wird die letztlich vergebliche Anstrengung zum Beispiel durch die Motorräder, die mit hoher Geschwindigkeit zurückbleibende Fahrer überholen.

Die Abfahrten nach den ersten Bergen sind dagegen weniger spektakulär. Sportlich passiert hier nicht besonders viel. Mutige Athleten probieren durch besonders riskante Fahrweise Vorsprünge herauszufahren oder Lücken zu schließen. Im Vordergrund der Inszenierung steht hier die pure Geschwindigkeit, die Kameramänner auf den Motorrädern filmen des öfteren das Tachometer ihres Fahrers und auch die Kommentatoren fabulieren über die Geschwindigkeiten bis zu 100 km/h. Die relative Spannungsarmut auf Abfahrten wird auch durch die Bilder der Kameras deutlich. Sehr oft werden Details der Räder oder der Fahrer in den Fokus genommen.

Die Spannung auf einer Bergetappen steigt am Fuße des letzten Berges sofort extrem an. Durch den Kommentar wird eine Erwartungshaltung aufgebaut. Es wird davon gesprochen, dass „die Favoriten jetzt ihre Hosen runterlassen müssen“. Schritt für Schritt fallen die Helfer zurück. Es wird suggeriert, dass jeden Moment etwas Entscheidendes und Grandioses passieren wird.

Sportlich gibt es zwei Varianten eine Bergetappe für sich zu entscheiden. Je nach Stil des Fahrers versucht er entweder mit ruckartigen Antritten die Konkurrenz abzuschütteln (Lance Armstrong) oder sie durch konstant hohe Geschwindigkeit kaputt zu fahren (Jan Ullrich).

Auf diesen letzten Kilometern steht das Ideal der absoluten Leidensfähigkeit und des unbedingten Willens im Vordergrund. Tatkräftig wird es unterstützt durch Einblendungen oder Nennungen der momentanen Steigung und die vermehrten Nahaufnahmen der Gesichter. Ein weiterer glücklicher Umstand unterstreicht die Leistung der Protagonisten. Die Ausreißergruppe, die sich am Anfang der Etappe abgesetzt hat, wird Schritt für Schritt eingeholt und scheint förmlich zu stehen. Dieser Umstand demonstriert natürlich die scheinbare Übermenschlichkeit der Favoriten.

Sind nicht sofort die ersten Attacken von Erfolg gekrönt, gibt es doch auf diesen letzten Kilometern irgendwann immer einen entscheidenden Angriff, der eine Vorentscheidung herbeiführt. Die Spannung erreicht den Höhepunkt, wenn hochgewettete Favoriten dem Tempo nicht mehr Schritt halten können. Der Kommentar begleitet hektisch und aufgeregt die verzweifelten Versuche der abgehängten Fahrer den Rückstand wieder aufzuholen. Die Sprecher konzentrieren sich in dieser Phase komplett auf das aktuelle Geschehen und die Deutung des Augenblicks.

Meist schon kurze Zeit später ist der Kampf entschieden. Natürlich stehen die wichtigen Zeitabstände noch nicht fest und es ist auch ungewiss ob ein einzelner Ausreißer sich noch ins Ziel retten kann. Die Spannung fällt auf hohem Niveau ein wenig ab. Die Kommentatoren beginnen schon damit, das Geschehen in Bezug auf den weiteren Verlauf der Tour de France einzuordnen. Es scheint klar, wer heute Boden gut gemacht hat und wer eventuell seine Träume vom Gelben Trikot aufgeben muss. Wenn der erste Favorit die Ziellinie überquert hat, beginnt das bange Warten auf das Eintreffen der Konkurrenten und das Auswerten der endgültigen Zeitabstände. Nachdem diese feststehen, ist die Etappe in dramaturgischer Hinsicht beendet. Natürlich rollen teilweise noch eine halbe Stunde nach dem Sieger der Etappe Fahrer ins Ziel. Diese Geschlagenen, die sich im sogenannten Gruppetto zusammengeschlossen haben, dienen allerdings medial höchstens zum Inszenieren des Leidens. Anhand ihrer verzerrten Gesichter und der sichtbaren Qualen kann die Großartigkeit der Leistung der Spitzengruppe untermauert werden. Dieses Einrollen läuft allerdings eher als Hintergundbild des schon beginnenden Rahmenprogramms.
6.2.3 Zeitfahren
Beim Zeitfahren gehen die Fahrer mit bis zu drei Minuten Abstand in umgekehrter Reihenfolge des Gesamtklassements auf die Strecke. Die gesamte Etappe ist ihrer Inszenierung sachlicher. Die sichtbare Grundlage des sportlichen Wettbewerbes ist hier schließlich der Kampf gegen die Uhr und nicht gegen einen Gegner. Natürlich steht der Zeitunterschied zum Konkurrenten für die Fahrer im Mittelpunkt, in der medialen Aufbereitung kämpfen die Athleten aber für sich alleine gegen die unerbittliche tickende Uhr.

Der Nachteil eines Zeitfahrens als Fernsehsport ist die fehlende Nachvollziehbarkeit des sportlichen Wettbewerbs. Paradoxerweise ist diese Disziplin aber meist hauptentscheidend für den Gesamtsieg. Deshalb spielen die nun permanent eingeblendeten Statistiken, Zwischenzeiten und virtuellen Klassement eine ganz wichtige Rolle. Nirgendwo sonst muss das Fernsehen soviel investieren, um den Wettkampf für das Publikum greifbar zu machen.

Trotzdem ist ein Zeitfahren meistens relativ unspektakulär. Es gibt auch bei den schlechter platzierten Fahrern einige Spezialisten, die sich Hoffnungen auf einen Etappensieg machen. Der Großteil der Fahrer geht diese Etappen aber relativ emotionslos an. Deshalb stellt sich eine gewisse Spannung immer erst ein, wenn die letzten Fahrer, die Favoriten auf die Strecke gehen. Die Kommentatoren begleiten die Athleten dann mit einem ständigem Einordnen der erzielten Zeiten. Sie spekulieren über den Fahrstil („Das sieht sehr flüssig aus“) und versuchen permanent, mögliche Perspektiven für den weiteren Verlauf der Tour aufzuzeigen. Im Endeffekt wird damit aber nur versucht, den Umstand zu verschleiern, dass es den Großteil der Strecke nichts Relevantes zu Erzählen gibt. Einzig die letzten Meter vor den jeweiligen Zeitmessungen und dem Ziel geben dem Kommentar eine Basis, das sportliche Geschehen direkt zu thematisieren.

Durch einige technische Fortschritte konnte das Fernsehen in den letzten Jahren diese schlechten Vorraussetzungen für eine spannende Übertragung teilweise kompensieren. Beim entscheidenden Zeitfahren 2003, dem finalem Duell zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong wurde zum Beispiel permanent ein Classement Virtuell, ein ständig aktualisiertes Gesamtklassement eingeblendet. So musste der Zuschauer wenigstens nicht auf die spärlich verteilten Zwischenzeiten warten. Außerdem wird beim Zeitfahren auch häufiger mit dem Split-Screen Verfahren gearbeitet.

Beim Zeitfahren teilt die Tour de France aber das Los aller Wettkämpfe, die ohne direkten Zweikampf der Protagonisten auskommen müssen. Im Gegensatz beispielsweise zu Bob- oder Schlittenwettbewerben hat das Radfahren aber wenigstens noch den Vorteil einer gewissen Ästhetik. Man kann den Fahrern ins Gesicht schauen und es rauschen nicht mehrere gleichaussehende Geräte durch einen Eiskanal. Die gutaussehenden Fahrer in ihrer perfekten Ergonomie auf dem Rad geben wenigstens ein attraktives Bild ab.

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