Tour de France – Herzinfarkt oder grobe Langeweile

Seit Samstag walzt die rollende Apotheke wieder durch Frankreich. Und wenn es noch irgendjemand interessieren würde, kommen jetzt hier die Gründe. Was das alles soll, steht hier. Dort gibt es auch ein Inhaltsverzeichnis, welches sich ganz von Zauberhand langsam mit Links füllt.

6. HERZINFARKT ODER GROBE LANGEWEILE

Natürlich kann man die Dramatik bzw. den Spannungsverlauf einer Tour de France Etappe schwer messen. Allerdings gibt es mehrere Kriterien, die eine grobe Einordnung möglich machen. Sportliche Faktoren, die Art und Weise des Kommentars und der Bilder, die Inszenierung des Publikums und sonstige Faktoren sind der Spannung zu- oder abträglich. Im folgenden werden diese Kriterien beschrieben, um später eine verallgemeinerte Spannungskurve für die einzelnen Etappentypen aufzustellen. Mit PLUS sind die Merkmale gekennzeichnet, die zur Spannung beitragen, MINUS markiert die Faktoren, die dafür sorgen, dass Längen entstehen.

6.1 Kriterien zur Spannungsmessung
Sportliche Kriterien
Die sportlichen Kriterien bilden natürlich die Grundlage für die Inszenierung. Wenn der Sport viel hergibt, ist es für die Kommentatoren einfach, darauf aufzubauen.

PLUS:
1 Massenspurt
Ein Massenspurt ist das einzige Ereignis bei der Tour de France wo das Qualitätsmerkmal „Maximale Aktion auf minimalem Raum“ zutrifft. Auf kürzester Strecke explodiert hier die Kraft der Athleten. Es geht darum, zu ermitteln wer der definitiv Endschnellste an diesem Tag ist.

2 Kampf der Favoriten
Die Favoriten stehen während der gesamten Tour relativ selten im direkten Duell. Meistens verstecken sie sich im Schutz ihrer Helfer und des großen Feldes. Wenn sie aber bei Zeitfahren und auf den Bergetappen auf sich allein gestellt sind, ist das sportlich sehr reizvoll.

3 Duell Mann gegen Mann
Auch wenn Radfahren eine Mannschaftssportart ist, steht natürlich der Kampf Mann gegen Mann im Mittelpunkt des Interesses. Wenn zwei oder mehrere Fahrer sich quasi duellieren, ist das immer spannender als eine noch so geschickte und kluge taktische Finesse.

4 Fahren am Limit
Die Tour de France wird sehr gern auch Tour der Leiden genannt. Die Strecke ist vor allem in den Bergen mit Höchstschwierigkeiten gespickt. Wenn die Fahrer an ihre Grenzen gehen müssen, das Leiden und die Größe der Leistung sichtbar wird, macht die Tour de France diesem Namen alle Ehre und zeigt, dass es ein sportliches Großereignis ist, bei dem man alles geben muss, um erfolgreich zu sein.

5 Ruckartige Attacken
Ein dynamischer Rennverlauf mit ruckartigen Attacken, die oft auch kurz aufeinander folgen ist natürlich sportlich äußerst attraktiv.

6 Knappe Entscheidungen
Sportlich sehr reizvoll sind Entscheidungen, wenn es mehrere Kandidaten für den Sieg in den einzelnen Kategorien gibt. Sei es der Kampf um das Grüne Trikot oder die Gesamtwertung, wenn der Abstand der Erstplatzierten gering ist, kann immer die nächste Aktion eine Vorentscheidung bringen und die Athleten müssen permanent bereit sein, ihre Höchstleistung abzurufen.

MINUS
1 Gemütliches Fahren
Gerade nach schweren Bergetappen kann man beobachten, dass die Fahrer quasi ein Abkommen geschlossen haben, sich heute etwas zu schonen. Auch wenn dieser Wunsch natürlich nachvollziehbar ist, ein Feld, dass relativ gemütlich durch das Land rollt, zeigt natürlich deutlich, dass die jeweilige Etappe nicht unbedingt sportlich relevant ist.

2 Taktisches Fahren
Für den Fall dass eine Ausreißergruppe mit genügend Vorsprung Richtung Ziel fährt, fangen diese häufig mit taktischen Spielereien an. Natürlich ist das legitim, geht es doch um einen prestigeträchtigen Etappensieg, spannend sind diese Stehversuche aber nur begrenzt.

3 Gruppetto
Auf den Bergetappen geht es um die Favoriten. 90% aller Fahrer ist es relativ egal ob sie mit 10 oder 20 Minuten Abstand ins Ziel kommen. Diese Fahrer sammeln sich in einer großen Gruppe. Ihr einziges Ziel ist es, noch im Zeitlimit anzukommen. Relativ emotionslos quälen sie sich die letzten Kilometer auf den Berg, sportlich ist dieses „Gruppetto“ in dem Moment uninteressant

4 Zu große Zeitabstände
Der große italienische Radfahrer Fausto Coppi wurde kurz nach dem Krieg nach einem triumphalen Sieg bei der Tour de France im folgenden Jahr nicht mehr eingeladen, weil er zu überlegen war. Zu große Dominanz verbreitet Langeweile. Es ist nicht klar, ob der Führende so stark oder die Gegner so schwach sind. Der Wert eines Sportspiels ergibt sich ja aus dem permanent offenen Ausgang. Wenn schon frühzeitig das Ergebnis klar ist, hilft es auch nichts, immer wieder zu betonen, dass „jederzeit noch etwas passieren kann“.

Kommentar
Die Kommentatoren sind der wichtigste Multiplikator, wenn es darum geht, die Spannung aus dem sportlichen Geschehen in die heimischen Wohnzimmer zu transportieren.

PLUS
1 Hektik und Dramatik
Naturgemäß neigen die Kommentatoren dazu die Emotionen und die Dramatik aufzunehmen und mit ihrer Stimme zu transportieren. Durch eine hohe Sprechfrequenz und Leidenschaft gelingt es ihnen aber auch mühelos ein vergleichsweise weniger relevantes Ereignis zu einem dramatischen Höhepunkt aufzublasen. Die auditive Ebene sorgt bei Sportübertragungen immer für den besonderen Spannungsmoment. Unterstützt wird dieser Umstand noch durch die parallele Hektik der Hintergrundgeräusche wie dem Tour-Funk und den anderen Kommentatorenkollegen auf der Pressetribüne, die als Hintergrundrauschen in solchen Situationen auch zu hören sind.

MINUS
1 Kommentatoren schweifen ab
Nicht während der gesamten Übertragung kann der Kommentar emotional an die Grenzen gehen. Wenn die Sprecher Zeit haben über Käse, Wein oder sportliche und medizinische Hintergründe der Tour de France zu reden, ist das zwar ein netter Füller, aber trotzdem eher langweilig. Es wird so lediglich verhindert, dass komplette Pausen entstehen. Es bedarf allerdings auch dieser Phasen der Ruhe, damit die dramatische Energie umso stärker an den entscheidenden Stellen explodieren kann. Ähnlich zu bewerten sind die Beantwortung von Zuschauerfragen oder die Ankündigungen von Gewinnspielen.

Bilder
Die Bilder kommen wie erwähnt vom französischen Fernsehen. Die deutschen Sender haben keinen Einfluss. Trotzdem lässt sich an der Art der Bildregie natürlich einiges ablesen.

PLUS
1 Split Screen
In besonders spannenden Momenten werdend die Konkurrenten beim Zeitfahren oder bei Bergetappen im Split-Screen Verfahren gezeigt, so dass der Zuschauer die jeweiligen Protagonisten verfolgen kann. Bei anderen Rundfahrten wurde teilweise sogar versucht bis zu vier Gruppen auf dem Bildschirm abzubilden (Übertragung der Vuelta, 2003), was dann aber eher in Konfusion als in Spannung ausartet

2 Viele Schnitte zwischen einzelnen Gruppen
Ähnlich wie in der Analyse von Dramatik in Filmen steigern natürlich viele Schnitte, in diesem Fall zwischen den einzelnen Gruppen bzw. Fahrern die Spannung. Verstärkt wird dieser Fakt besonders auf Bergetappen noch durch die nicht-stationäre Kameraperspektive der Motorradkameras. Diese fahren wild und mit hohen Geschwindigkeiten zwischen den einzelnen Fahrern hin und her und vermitteln so noch eine zusätzliche Dramatik

3 Close-Ups des Leidens
Gerade das französische Publikum liebt es, ihre Helden leiden zu sehen. (Kicker Sonderheft, 2003) Die Nahaufnahmen der von Anstrengung verzerrten Gesichtern verbildlicht die Leiden und macht sie erlebbar.

MINUS
1 Hubschrauberaufnahmen
Für die Übersicht sind sie unerlässlich. Die Hubschrauberkamera kann durch die große Entfernung allerdings die Geschwindigkeit des Rennens nicht einfangen. Aus der Luft sieht jede noch so dramatische Etappe eher gemächlich aus.

2 Banalitäten am Rande
Auch die Kameraleute des Fernsehens haben mit Situationen zu kämpfen, in denen das sportliche Geschehen nichts hergibt. Sie filmen dann Radnaben, Kühe am Straßenrand oder das Tachometer ihres Motorrads. Diese Aufnahmen verhindern, dass die Spannung gänzlich abfällt, dass in diesem Moment klar wird, dass wirklich gar nichts passiert. Allerdings stehen sie halt auch immer dafür, dass andere Bilder gerade nichts hergeben.

Publikum
Das Publikum nimmt bei jeder Sportveranstaltung als Inszenierungsgegenstand einen wichtigen Raum ein. Die Tour de France hat rein quantitativ ein großes Publikum. Bis zu eine Million Menschen verfolgen einzelne Bergetappen. Allerdings ist diese Publikum nicht immer als Masse, in der sie eine attraktive Inszenierungsgrundlage bietet, vorhanden.

PLUS
1 Exstatisches Publikum
In jeder Sportart tragen die sogenannten „positiv Verrückten“ zur Steigerung der Dramatik bei. Auch bei der Tour de France unterstützen die fanatischen Fans am Straßenrand besonders auf Bergetappen das Bild des außergewöhnlichen Sportereignisses. Seien es die Anfeuerungsrufe, die Fahnen, die den Fahrern fast in Gesicht geschwenkt werden oder die Fans, die mit den Athleten mitlaufen.

MINUS
1 Leere am Straßenrand
Auch der interessierte Zuschauer kann einschätzen, an welchen Stellen es sich lohnt, die Tour de France zu beobachten. Deswegen ballt sich das Publikum an bestimmten Stellen, teilweise herrscht am Straßenrand aber auch gähnende Leere. In diesem Moment kann ist das Publikum als Komponente der Inszenierung natürlich nicht existent, der Vergleich zu den bekannten Bildern der exstatischen Fans unterstreicht natürlich auch die gegenwärtige Emotionslosigkeit.
Ähnlich verhält es sich bei einer hohen Geschwindigkeit des Feldes. Wenn die Fahrer mit 50 km/h vorbeirauschen, ist das Publikum nur als konturenlose Masse zu erleben und kann auch nicht zur Schaffung eines dramatischen Höhepunktes beitragen.

Sonstiges
Die Fernsehsender wissen natürlich über die Risiken einer Tour-Übertragung und versuchen sich auf diese Phasen vorzubereiten. Trotzdem sind alle diese Versuche auch ein Zeichen, dass etwas getan werden muss, damit der Zuschauer nicht wegschaltet. Es gibt also nur wenige zusätzliche Mittel, die eingesetzt werden, um eine vorhandene Spannung noch zu steigern. Die meisten sonstigen Elemente dienen eher der Abfederung, um die Spannungskurve nicht unter Null rutschen zu lassen.

PLUS
1 Classement Virtuell
Gerade bei Zeitfahren ist das virtuelle aktuelle Gesamtklassement als eingeblendete Statistik ein probates Mittel, die sportliche Relevanz noch einmal herauszustellen. Die kleiner werdenden Abstände zeigen, dass sich eventuell entscheidende Veränderungen im Gesamtklassement ergeben können und unterstützen die Neugier auf den tatsächlichen Ausgang des Rennens. Ähnlichen Wert haben die sekündlich aktualisierten Abstände der einzelnen Gruppen auf Bergetappen. Gerade die immer wieder umspringende Zahl löst ein Gefühl des stetigen Wandels aus und fördert die Spannung.

2 Berge im Detail
Bei längeren Anstiegen wird der Berg gerne grafisch seziert, die einzelnen Passagen werden mit ihren jeweiligen Steigungsraten visualisiert. Einerseits werden dann plötzlich extrem steile Stellen sichtbar gemacht und die Schwierigkeit noch einmal herausgestellt. Andererseits dienen diese Angaben auch dem Kommentator als Vorlage für Spekulationen über den Zeitpunkt entscheidender Attacken.

MINUS
1 Nachrichten oder Werbung
Gerade die öffentlich-rechtlichen Sender bringen auch Nachrichten während ihrer Übertragungen. Da sie natürlich aber nicht mutwillig ihre eigene Dramaturgie zerstören wollen, zeigt das deutlich, dass die Spannungskurve in diesem Moment sowieso nicht abrupt abfallen würde. Ähnlich verhält es sich mit der Werbung. Natürlich haben die Sender auch ein Interesse, ihre Werbung in einem attraktiven und spannenden Umfeld zu schalten, allerdings ist es nicht üblich in einem entscheidendem Moment eines Sportereignisses die Übertragung zu unterbrechen. Es wird also meistens ein Tal in der Spannungskurve gewählt und das Publikum darauf vorbereitet, dass „gleich nach der Werbung das Rennen in die entscheidende Phase geht“.

2 Einspieler
ARD und ZDF haben mit ihrem größeren Produktionsaufwand Einspieler zu den verschiedensten Themen vorbereitet. Auch wenn Portraits von Sportlern teilweise dem Kommentator wertvolle Brücken zu späteren Bezügen bauen können, sind diese Filme zum Zeitpunkt der Ausstrahlung immer ein Indikator für Langeweile. In die gleiche Kategorie fallen auch die diversen Filme über Landschaft, Käse, Wein und Sehenswürdigkeiten oder ausgedehnte filmische Exkurse in die Geschichte der Tour de France.

Eigentlich wird der gewohnte Fluss der Sendung mit Bildern vom sportlichen Ereignis nur unterbrochen, wenn sich die Regie relativ sicher sein kann, dass demnächst nichts Entscheidendes passiert. Bei einer Sportübertragung wäre es die größte Katastrophe in einem wichtigem Moment nicht präsent zu sein und damit den Nervenkitzel des Live-Erlebnisses zu verschenken.

Kommentieren

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>