[tl;dr] Auf einem Potsdamer Hinterhof werden Eigentumswohnungen gebaut, die mit dem Versprechen von “ruhigem Wohnen” relativ teuer verkauft werden sollen. Die Baustelle verstößt mit ihrem Tun aber gegen jegliche Regeln des friedlichen Miteinanders – und ist alles andere als ruhig.
“In bester Innenstadtlage und doch ruhig”, “urbane Idylle für alle Generationen” und “Modernes Wohnen in der historischen Mitte Potsdams”, so versprechen es die Anpreisungen der Artprojekt Entwicklungen GmbH für die Nikolai Gärten Potsdam. Seit Anfang Juli wird auf dem Innenhof zwischen York-, Staab- und Dortustraße gebaut. In Schreiben an die Mieter der umliegenden Häuser wurde davon gesprochen, dass jetzt “endlich” eine der Potsdamer Brachen besiedelt wird und der “hässliche” wilde Parkplatz, der dort jahrelang das städtische Parkplatzplatzproblem kaschierte, verschwindet.
Das mit der Idylle und Ruhe ist aber sicherlich erst ab Fertigstellung und bei Überweisung der ca. 3.500 Euro pro Quadratmeter für die schnuckeligen Townhouses und Eigentumswohnungen gemeint. Ich habe mal dokumentiert, wofür in den Briefen – “Wir bitten die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen, bitte passen Sie auf Ihre Kinder auf” – um Verständnis geworben wurde.
Die Baustelle arbeitet zwischen 7 und 17 Uhr. Im Moment wird das Gelände beräumt. Da hat sich einiges angesammelt. Die Baustelle ist nur durch schmale Durchfahrten zu erreichen. Das ist sicherlich anspruchsvoll. Die gewählte Lösung ist wahrscheinlich die preiswerte Variante und vielleicht sogar legal – allerdings ist sie auch in Tritt in den Hintern aller Anwohner. Den ganzen Tag warten – mit laufendem Motor – große LKWs auf der Yorkstraße. Ein Bagger, der die Durchfahrt geradeso – ca. 5cm Spielraum sind da links, rechts und oben schon noch – passieren kann, lädt Steine und alte Betonplatten auf, kutschiert sie zum LKW und wirft sie dort ab. Dann fährt er rückwärts – mit dem Rückfahrpieper, damit alle es merken – zurück und holt neue Steine. Die Jungs sind ziemlich fix, ich würde sagen, ein Durchlauf dauert ungefähr 5 Minuten. (Wie viel Fahrten das jetzt in 10 Stunden sind, kann ich nicht ausrechnen, ist mir zu laut.)
Im Video sind neben der Baustelle, die aussieht, wie eine Baustelle aussieht, gewisse Zeichen von Zivilisation zu erkennen. Richtig, direkt neben und über der Einfahrt wohnen Menschen. (“Wir bitten um Verständnis”) Die staunten nicht schlecht, als sie eines Tages aufwachten, aus dem Urlaub kamen oder ihnen der Kaffee vom Tisch fiel, weil ein Bagger (im Schnitt einmal pro Tag) direkt gegen das Haus rumste.
“Mietminderung”, “Ordnungsamt anrufen”, “Beim Bauträger beschweren” sind so die ersten Reflexe. Der Bauträger hat zwar einen Showroom, wo er die Immobilien verkaufen möchte (abseits des Baulärms, man kann sich ja schließlich nicht unterhalten bei dem Krach) aber keine direkte Telefonnummer. Mietminderung bringt Geld aber keine Ruhe. Und alle Ämter der Stadt Potsdam (Umwelt-, Ordungs-, Verkehrs-, Bauamt, etc.) sind entweder nicht zuständig oder alles ist in Ordnung.
Ist es das wirklich? Ich dachte eigentlich bisher, dass die deutsche Bürokratie eher zuviel als zuwenig reglementiert. Hier scheint es eine Lücke zu geben. Die konsultierten Anwälte der Anwohner meinten, “schnell geht da gar nichts, man kann nur Geld rausholen”, der Vermieter des Hauses über der Durchfahrt wusste nicht einmal, dass diese Verschalung angebracht wurde. Die Yorkstraße ist eine viel befahrene Straße mit Radweg. Was ist, wenn der lustige Bagger die Steine mal einen Meter zu weit schmeißt (“Passen Sie auf Ihre Kinder auf!”)? Letztendlich wurde hier die Baustelle von der eigentlichen Baustelle subtil in öffentlichen Raum wegverlagert. Krach und Dreck, den solche Baumaßnahmen nun einmal machen, finden jetzt nicht mehr auf der Baustelle sondern auf der Straße statt.
Wäre das ein Bild-Artikel würde ich Titeln “Sind die Russen zurück?”, aber das wäre gemein, die Kamas-LKWs, die in den 80ern die Jägerallee hoch und runter rumpelten und das Geschirr in der Küche zum Wackeln brachten, waren dagegen umweltschonende Flüsterautomobile.
Sicherlich, die Baustelle arbeitet nur tagsüber – bei diesen Lautstärken kann man aber bitte auch einmal bedenken, dass es heute andere Lebensmodelle gibt, als um 6:30 Uhr das Haus zu verlassen und zu einer Arbeitsstätte zu fahren. Was ist mit den Menschen, die – zufällig – direkt über der Einfahrt ein Tonstudio haben, den Freiberuflern, die zu Hause arbeiten, den Studenten, die lernen wollen oder Menschen, die aus anderen Gründen zu Hause sind?
Vermutlich ist es eine Kostenfrage. Jeder Bauträger wird heutzutage ein bisschen Geld eingeplant haben um eventuelle Rechtsstreitigkeiten zu begleichen und das im Zweifelsfall lieber bezahlen, als den Plan umzuwerfen(*). Und bei – laut Medienberichten – 23 Millionen Investitionssumme, einer Gesamtwohnfläche von 6.200 Quadratmetern und ca. 3.500 Euro/Quadratmeter (Das sind 21,7 Millionen, wenn alles verkauft wird) scheint das Projekt ja finanziell auch auf Kante genäht zu sein.
Mich würde wirklich interessieren, ob das wirklich, richtig, in echt alles legal ist. Oder ob jemand von Amtsseite nicht “ganz genau” hingeschaut hat (“Das muss das andere Amt klären”), der Bauträger nicht ganz genau beschrieben hat, was da eigentlich passiert oder es “einfach so passiert ist, aber jetzt kann man nichts mehr ändern und es ist ja bald geschafft”.
Ich wundere mich auch über mich selbst: Ich habe mich noch nie in meinem Leben über Lärm beschwert, wohne bewusst in der Innenstadt, habe keine Probleme mit Baustellen, mit Betrunkenen an der Nachtbushaltestelle, lauter Musik oder dem grundsätzlichem Lärmpegel, wenn Menschen nicht den ganzen Tag flüstern. Ich habe mich aber kritisch hinterfragt und bin zu der Überzeugung gekommen, dass ich nicht aus Versehen zu einem pedantischen Kleinbürger geworden bin, sondern dass es in diesem Fall absolut gerechtfertigt ist, sich aufzuregen. Ich stand in der Wohnung direkt über der Durchfahrt und erkläre sie nach normalem Menschenverstand als unbewohnbar. (Und wir haben noch nicht einmal über den Staub gesprochen, der in alle Räume kriecht, Bewässerungen am LKW oder an der Baustelle habe ich bisher nicht gesehen.)
Dieses Vorgehen finde ich – im Gegensatz zu allem anderen Stadt-Lärm – rücksichtslos, grenzüberschreitend und unnötig. Und die Verursacher wollen “nur” Townhouses verticken und nicht ein Krankenhaus bauen, eine Infrastruktur wieder erneuern oder etwas für die Allgemeinheit tun. Eine Runde schlechte Karmapunkte bitte – nicht für die Bauarbeiter, die machen nur ihren Job, sondern für die Menschen, die sich das ausgedacht oder genehmigt haben.
Ich bin jetzt jedenfalls bis zur Fertigstellung der Bauarbeiten damit beschäftigt mir genügend Gelassenheit anzutrainieren um nicht einem dann neuen Nachbarn, der mir beim Smalltalk erzählt, wie schön ruhig das hier ist (“Und viel billiger als in Hamburg!”) ins Gesicht zu springen.
(*) In den ersten zwei Wochen sind die Bauarbeiter mit kleineren LKWs direkt auf die Baustelle gefahren und haben den Schutt eingesammelt. Danach machte der Nikolaisaal – auch ein Anwohner – Sommerpause und die Einfahrt war “frei”.