Europa mit dem Zug

1997 oder 1998, kurz nach dem Abi, waren wir eine Woche mit Zelt und Rucksack unterwegs. Prag, Bratislava, Wien. Keine große Sache eigentlich. In Wien waren wir nur einen knappen Tag. Wir kamen morgens an, verstauten das Gepäck in Schließfächern, gondelten durch die Stadt und wollten dann am Nachmittag mit dem Zug zurück nach Dresden fahren. In irgendeinem Museum vermisse ich mein Portmonee, naja, werde ich wohl mit ins Schließfach gepackt haben. Da war es dann aber doch nicht. Latente Panik. Zugkarte hatte ich, aber keinerlei Ausweis, Reisepass, etc.

Schnell und unüberlegt improvisiert: Ich fahre mit dem Reisepass eines Freundes, er hatte noch einen Personalausweis dabei. Auf dem Bild ist er 16 (“two years ago I had short hair”), wir setzen uns an unterschiedliche Enden des Zugs, wird schon klappen. Damals hieß das aber auch: Drei knüppelharte Grenzkontrollen mit jeweils Beamten auf beiden Seiten. Erst die Österreicher, dann die Slowaken. Dann die Slowaken und die Tschechen. (Noch sehr schlecht gelaunt beide im Zug. Die Trennung der Tschecheslowakei war noch nicht so lange her.) In Decin sind wir sogar ausgestiegen um die letzte Grenze zu Fuß zu nehmen. Und hatten unterschätzt, dass das Niemandsland beim Übergang Bad Schandau ungefähr einen Kilometer lang ist. Ich lief vor, der zweite GW war ja schließlich der echte, den würden sie schon durchlassen. Und hatte dann noch einen schönen Panikmoment, als der deutsche Grenzbeamte (“Das sind sie?”, “Vor zwei Jahren hatte ich ganz kurze Haare”) in sein Kabuff zum Telefonieren ging. Nicht dass die anderen schon bei den tschechischen Grenzern vorbei waren … Irgendwann wurde ich dann durchgewinkt und bin dann hektisch weggerannt. Wir haben uns dann sogar noch am Bahnhof verpasst.

20 Jahre später kann ich mit K1 mit dem Zug durch Europa reisen – wir haben im April mit London angefangen – und das Kind kennt gar nichts anderes als ein – mehr oder weniger – vereintes Europa. Ok, ein bisschen Währungsumrechnen gibt es als Globetrotter-Romantik immer noch. Aber sonst? Wir sind gerade in Budapest. Mit einem Direktzug aus Berlin. (Einschub: Ich finde, die EU sollte – wenn schon nicht den normalen Bahnverkehr – diese Züge massivst subventionieren. Sodass alle Bahnfirmen quasi gezwungen werden so etwas anzubieten und es für Reisende deutlich weniger als ein Flug kostet. In unserem Fall war das tatsächlich so.)

Wir fahren also mit dem Zug von Berlin über Dresden, Prag und Bratislava nach Budapest. Schauen auf große Flüsse und kleine Bahnhöfe. Sehen Leute ein- und aussteigen und eine sich immer verändernde Landschaft. Und werden nicht ein einziges Mal kontrolliert. (Ok, doch, die Fahrkarten werden ganz motiviert und altmodisch mit der Zange geknipst. Von jedem Land mindestens einmal) Wie kann jemand ernsthaft in Frage stellen, dass dieses Europa eine gute Idee ist? Wie kann jemand ernsthaft damit davonkommen, dass damit “Heimat” oder “Identität” verloren geht? (Hey, in dem Zug war ein ungarisches Bistro mit echten Fritteusen und Gasherd an Bord. Das ist schon zwischen Südkreuz und Dresden Neustadt soweit weg von Deutschland …)

Und das ist für die Kinder, die heute aufwachsen so selbstverständlich und so richtig, dass ich mühsam erklären muss, warum das mal anders war. Verstehen tut das Kind das nicht. Zurecht. In Anbetracht dieser Reise ist es auch noch einmal paradoxer, dass wir letztes Jahr auf dem Rückweg von Kroatien an der bayerischen Grenze dank Seehofers Vollpfosten-Idee 2 Stunden im Grenzstau standen. Und wenn man mit dem Zug reist und nicht von Flugzeugen auf sinnlosen Flughäfen ausgespuckt wird, wird einem das noch viel bewusster, wie toll ein Europa, was zivilisiert zumindest miteinander – wenn man das schon mit dem Rest der Welt nicht hinbekommt – umgeht, ist. (Und zivilisiert heißt in dem Fall, dass man nicht an jeder beliebigen Stelle behandelt und kontrolliert wird, als ob man den Staat militärisch einnehmen möchte)

Wir haben uns auf jeden Fall fest vorgenommen, noch weitere Städte in Zugreichweite zu besuchen. (Und bedauern sehr, dass man nicht mehr mit dem Zug via Fähre Sassnitz/Trelleborg nach Schweden fahren kann)

Mein Portmonee kam damals übrigens nach mehreren Wochen im Einwohnermeldeamt Potsdam an. Das hatte jemand gefunden und es landete via Deutsche Botschaft dann wieder bei mir. Inklusive mehreren Briefumschlägen mit dem feinsäuberlich gezählten und separierten Fremdwährungen, die ich damals mit mir führte. Und statt mich wegen illegalen Grenzübertritten strafbar zu machen, hätte ich auch einfach zur Botschaft laufen und mir ein Übergangsdokument geben lassen können. Aber damals hatten wir noch kein Internet und mussten das leider ohne Hilfe entscheiden.

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