Weise vorausahnend, dass ich sowieso ab Dienstag 14 Uhr ein Nervenbündel sein werde, beschloss ich “ist ja schließlich nur einmal WM” schon Montag abend meinen lauschigen Arbeitsplatz in Neubrandenburg zu verlassen und die Nacht vor dem Halbfinale im eigenen Bett zu verbringen. Außerdem ist ja Sommer und überhaupt und sowieso. Also in den Regionalexpress der Linie Fünf (wie Sebastian Kehl) von Stralsund nach Falkenberg/Elster. Komische Strecke, morgens Richtung Norden wird man von tonnenweise Klassenfahrten jeglichen Alters (von “zeig mal deine Pokemon” bis “eh alter, krasse party, letzten Samstag und wie der Kevin und die Mandy…”) in standesgemäßer Lautstärke von der Nachtruhe abgehalten. Und jetzt im Sommer scheinen alle Hippies und Ökos aus Berlin Auslauf zu haben. An sich schon verwunderlich, dass ein ganzer Zug zwei Stunden lang nicht ein Wort über DAS SPIEL verliert. Ich kann jetzt aber berichten, wo die 10% die an 100% Einschaltquote am Freitag um 19.30 Uhr fehlten, waren. Die waren Fahrradtour machen in der Mecklenburgischen Seenplatte.
Verschiedene Spezies, einmal die Ortlieb sattelbepackten ADFC Späthippies, die sich die ganze Zeit über irgendwelche Gender Themen unterhielten und andererseits das sensible Künstlerpärchen, sie mit VISA Karte, UdK Studentenausweise an seiner Schulter lehnend, er mit aufgeknöpften Hemd (so weit wie Otto Pfister, aber natürlich jünger und dünner), leichten Geheimratsecken und verträumten Blick. Ganz vertieft in Kunst und Musik und so, singen sich permanent Stellen aus irgendeinem beknacktem Stück vor und sinnieren und interpretieren sich ein Loch in Bauch. Er scheint Schlagzeuger zu sein und fängt an über Breaks zu philosophieren. In Neustrelitz dann der nächste Hieb Kunstkacke, fangen die hinter mir an über Improvisation und die Verbindung von Tanz und Literatur zu faseln. Ich find ja Musik auch supertoll und meinetwegen dürfen die auch alle improvisieren und interpretieren aber bitte nicht im Zug vorm Halbfinale.
Mit Jens Lehmann Konzerntrationstricks versuchte ich das alles auszublenden, kam in meinen Gedankengängen aber nur soweit, dass ich die Sperre von Frings und die FIFA lächerlich finde. Es fiel mir auf, dass mir das total Hupe ist, wenn die sich nach dem Spiel verdreschen, ich meine Mehdi Madavikia hat mehrere Frauen geheiratet, der wurde auch nicht gesperrt. Das ganze Spiel freut man sich, dass da so viel Testosteron im Spiel ist und es zur Sache geht, dann können, die sich ruhig ein bisschen schubsen. Der Argentinier sah das scheinbar ähnlich. Eine schöne Aussage. “Ich habe nichts gemerkt und nichts gespürt…” Dann wurde ich beeinflusst vom über Taktverschiebung flüsternden Drummer kurz ernst und dachte mir, dass das nicht in Ordnung ist, wenn da irgendwelche Spinner wegen ein bisschen “ich bin der coolere Checker, als wie du” dem Frings ihm seinen hart erarbeiteten Traum vom Halbfinale versemmeln. Und ich fand in der Nachbetrachtung das Ende des Deutschland Spiels gegen Argentinien eines Viertelfinales würdiger als die sich beim Gegentor Schnürsenkel bindenden und lahmen Brasilianer. Also so was muss ich nicht bei jedem Kreisligaspiel sehen, aber das hatte schon was. Naja, so Gedanken halt im Zug in der schönen Landschaft.
Dösend erwartete ich also Berlin und als ich dann dachte, ich bin die Idioten los: “Ladies and Gentleman on Platform 4. Welcome to the FIFA Worldcup Railway Station Berlin Central Station.” Die Ansage auf dem neuen Superbahnhof. Sagt mal liebe FIFA und vor allem liebe Deutsche Bahn, ich hab ja auch Werbung studiert, da redet man seinen Kunden, wenn einem nichts besseres einfällt, gerne mal pseudohippen Dreck ein und verkauft einem das als Unique Selling oder Advertising Proposition. Aber das heißt ja nicht, dass man jeden Blödsinn mitmachen muss. “FIFA Worldcup Railway Station Berlin Central Station” danach auf Deutsch: “Willkommen auf dem FIFA WM Bahnhof Berlin Hauptbahnhof”. Ich glaub, Ihr habt Euch da Unfug aufschwatzen lassen.
Ich weiß nicht, ob das so der knackige Werbespruch ist. Jetzt muss ich nicht nur diese Hippies ausblenden sondern auch noch diesen Nonsens mit viel Konzentration aus meinem Kopf verdrängen, um mich mental fit zu machen für das Halbfinale.
Und siehe da. Kurz vor dem Aussteigen am Potsdamer Hauptbahnhof (ohne FIFA soweit ich weiß) erfuhr ich unerwartete Unterstützung. Ich erspähte einen Mann, Mitte 30, sehr seriös, schien mir in der Finanzbranche tätig sein, mit Ehering und Laptop. Als ich dann ausstieg sah ich, dass er auf diesem nicht Excel quälte sondern Fußball spielte. Zwar FIFA Soccer 2005 mit VFB Stuttgart (damals noch mit Kevin Kuranyi) aber immerhin.
Jetzt bin ich zuversichtlich.