Tour de France – Herzinfarkt oder grobe Langeweile

Früher war alles besser und wir alle naiver. Es gab auf jeden Fall noch einen naiven Glauben daran, dass die Ullrich, Armstrong und Co bewunderswerte Leistungen ohne pharmazeutische Unterstützung vollbringen. Und so saßen viele, die sich heute fragen, warum überhaupt noch jemand die Tour im Fernsehen überträgt bei dieser Etappe vor der Glotze. Was das alles soll, steht hier. Dort gibt es auch ein Inhaltsverzeichnis, welches sich ganz von Zauberhand langsam mit Links füllt.

6.3 Von Toulouse auf das Plateau de Bonascre – Eine Etappe im Detail
Die 13. Etappe der Tour de France 2003 führte über 197 Kilometer von Toulouse auf das Plateau de Bonascre. Sie fand direkt nach dem anstrengendem ersten Zeitfahren statt und war die erste Pyrenäenetappe der Rundfahrt. Nach den ersten 150 Kilometern, die vom Profil relativ flach waren, standen am Ende zwei Berge der ersten Kategorie inklusive dem Schlussanstieg nach Ax Trois Domaines.

Die sportliche Ausgangslage versprach einen spannenden Etappenverlauf. Jan Ullrich, von dem Führenden in der Gesamtwertung Lance Armstrong in den Alpen noch abgehängt, hatte das Zeitfahren am Vortag souverän gewonnen und Boden gutgemacht. Der Kasache Alexander Winokurov aus dem deutschem Team Telekom liegt aussichtsreich auf Position 3. Erstmals nach Jahren der Dominanz des Amerikaners Armstrong befinden sich die ersten Drei des Gesamtklassements innerhalb einer Minute. Die Etappe fand an einem Samstag statt, das ZDF übertrug fünfeinhalb Stunden. Die Analyse dieser Übertragung, beginnend kurz vor dem ersten großen Anstieg, soll dazu dienen, die weiter vorne aufgestellten allgemeinen Spannungsverläufe an einem konkretem Beispiel zu erläutern.

Nach dem spannungsarmen Flachstück beginnt das ZDF die Sendung mit einem Moderatorenblock quasi neu. Rudi Cerne als Moderator und Rolf Gölz als Experte stimmen den Zuschauer auf die nächsten Stunden ein. Sie fassen mit Bildern unterlegt die wichtigsten Geschehnisse des Tages zusammen. Es wird natürlich noch einmal auf das gestrige Zeitfahren und den triumphalen Sieg von Jan Ullrich eingegangen. Anhand des momentanen Renngeschehens verlieren sich die Moderatoren in einem belanglosem Geplänkel über mögliche Gründe für die Tempoarbeit des Teams Saeco. Es wird aber immer wieder betont, wie spannend das jetzt folgende Geschehen sein wird. Nach diesem Vorlauf und der Thematisierung der Hitze, die dem Renngeschehen noch eine zusätzliche Dramatik verleihen soll, wird an die Kommentatoren Peter Leissl und Michael Pfeffer übergeben.

Die Kommentatoren beginnen ihre Begleitung mit der Beschreibung der Landschaft, ein untrügliches Zeichen, dass die Spannung zu wünschen übrig lässt. Dieser Fakt wird auch relativ offen zugegeben. „Ich kann Ihnen nicht viel Neues sagen, was sie schon seit zwei Stunden sehen. Aber so langsam dämmert der Moment der Wahrheit heran.“ Diese gerne beschriebene Ruhe vor dem Sturm ist ein beliebtes Mittel der Kommentatoren, die herrschende Langeweile durch den Ausblick auf die kommenden Großereignisse zu kompensieren. Diese lassen aber weiterhin auf sich warten. Stattdessen verlieren sich die Sprecher im Philosophieren über DIN-Normen für den Asphalt und stehen mit ihren Zuschauern in Kontakt, die darüber spekulieren, wann der Asphalt schmilzt. Das Publikum wird durch die konkrete Aufforderung weitere Mails zu schreiben, in diese Phase mit eingebunden.
Da es noch einige Kilometer bis zum Fuß des ersten Berges sind, schaltet die Regie zu einem Kamerateam, das sich auf dem Gipfel des Berges postiert hat. Hier führt Claudia Neumann ein Interview mit dem Arzt des Teams Gerolsteiner und dem alten Radsporthelden Didi Thurau. Auch hier ist das Thema die unerbittliche Hitze und die Folgen für die Athleten. Natürlich werden wieder Vermutungen über den Verlauf der Etappe angestellt. Durch die diversen Einschätzungen von Gästen, Moderatoren, Experten und Kommentatoren sind mittlerweile fast alle Szenarien denkbar. Das Interview ist mit drei Minuten relativ lang. Die Bilder vom Feld laufen zwar im Split-Screen weiter, aber allein die Ausführlichkeit dieser Schalte zeigt, dass immer noch nichts passiert.

Nach einem kurzen Part der Kommentatoren folgen mit dem obligatorischem Hinweis, dass „es gleich richtig los geht“ Programmtrailer, Nachrichten und Werbung.

Nach diesem Block ist das Feld endlich im Berg und die sportlichen Faktoren lassen die Spannung steigen. Die Ausreißergruppe, die sich zu Beginn der Etappe abgesetzt hat, zerfällt langsam und auch im Feld der Favoriten kommt es zu einer Tempoverschärfung. Peter Leissl und Michael Pfeffer beurteilen die Chancen der einzelnen Athleten und greifen zu drastischen Formulierungen, um das beginnende Leiden der abgehängten Fahrer zu thematisieren: „Ein Scharfrichter, jetzt schon, dieser Berg.“ Der Fokus auf die deutsche Hoffnung Jan Ullrich wird deutlich sichtbar. Der Zuschauer verfolgt schließlich gespannt den Weg ihres Sympathieträgers und so wird dieser auch oft erwähnt. Meistens haben die Aussagen keine wirklich Relevanz, aber ein „er sieht sehr, sehr gut aus“ lässt natürlich hoffen. Das ZDF stellt mit einer 3D-Animation den Anstieg vor und blendet auch immer wieder den aktuellen Ort der Fahrer in einem Steigungsprofil ein. Anhand der Prozentangaben wird einerseits ständig die Schwierigkeit betont, andererseits werden Vermutungen über mögliche Gelegenheiten zu Angriffen angestellt.

Nach der Attacke zweier Fahrer aus der Gruppe der Favoriten wechseln die Sprecher erstmals in die direkte Kommentierung des Bildes und lassen die erste Dramatik aufkommen. Es stellt sich allerdings heraus, dass diese nicht berechtigt ist, weil die Ausreißer nicht wie vermutet die Kapitäne ihrer Mannschaft und aussichtsreich platziert sind. In der Annahme es handelt sich um den Amerikaner Tyler Hamilton, der seit der ersten Etappe mit einem Schlüsselbeinbruch fährt und trotzdem auf Platz 4 der Gesamtwertung liegt, wird die Größe dieser Leistung gewürdigt. Nach der Feststellung dass es sich um seinen Teamkollegen Carlos Sastre, den späteren Etappensieger handelt, verpufft diese erste Dramatik aber relativ schnell und man konzentriert sich auf das Belauern der Favoriten.

Die Bilder unterstützen die nun greifbare Spannung durch Nahaufnahmen der Gesichter der Favoriten. Die Anspannung wird sichtbar und geben ständigem Anlass zu neuen Spekulationen über die Verfassung und die Chancen der jeweiligen Athleten. Die Gruppe verkleinert sich, immer mehr Fahrer fallen zurück. Obwohl sportlich keine Vorentscheidung fällt, die Führenden im Gesamtklassement im Gleichschritt den Berg hochfahren, ist diese Phase durch die Ungewissheit des Ausganges, den Nervenkitzel des Live-Erlebnisses sehr spannend. Es ist aber schon bald abzusehen, dass an diesem ersten Anstieg noch keine Entscheidung fallen wird und auch die Kommentatoren ordnen das schon zwei Kilometer vor der Passhöhe so ein. („Entscheidung vertagt“)

Nachdem die wichtigsten Fahrer den Berg überquert haben und die Abfahrt in Angriff nehmen, wird nach dem Verweis auf die Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 100 km/h sofort auf die drohende Langeweile reagiert. Es folgt sehr schnell ein Bericht über die technischen Hintergründe von Fahrradbremsen. Zu stark fällt die Spannung gegenüber dem Anstieg ab, als dass man sich darauf verlassen möchte, nur die Ästhetik und einzelne verwegene Abfahrer zu thematisieren. Der Bericht würde aber jederzeit unterbrochen werden, wenn es, wie auf einer früheren Etappe geschehen, zu einem Sturz kommen würde.

Durch die hohen Geschwindigkeiten ist die Abfahrt auch relativ schnell vorbei und es beginnt der Weg zum entscheidenden Schlussanstieg. Wieder wird mit Hilfe der bewährten grafischen Mittel das letzte Teilstück visualisiert. In den letzten Minuten vor dem Einstieg in den Berg, werden noch sportferne Komponenten zur Hilfe gezogen, um die Spannung hochzuhalten. Das fanatische baskische Publikum und persönliche Geschichten über den jetzt allein führenden Carlos Sastre werden erwähnt. Außerdem findet natürlich weiterhin eine permanente Einordnung des Geschehens in der Gruppe der Favoriten statt. Jeder Helfer, der zurückfällt und jeder zufällig eingefangene Gesichtsausdruck von Armstrong oder Ullrich müssen dann für weitreichende Spekulationen herhalten.

Die Spannung steigt jetzt auf ein extrem hohes Niveau. Es nähert sich für alle sichtbar die sportliche Entscheidung. Carlos Sastre, der seinem ersten Etappensieg bei der Tour de France entgegenfährt, spielt kaum noch eine Rolle. Alles konzentriert sich auf das Duell der drei Spitzenfahrer. („Um diese Gruppe geht es ja eigentlich.“) Das Tempo der Favoriten ist nicht gleichbleibend hoch, aber die ruckartigen Antritte einiger Fahrer verstärken die Dramatik eher. Insgesamt gibt es auf diesem Schlussanstieg drei Attacken, bei denen die Spannung von ihrem hohem Niveau noch einmal sprunghaft explodiert. Das erste Mal als die Mannschaft von Lance Armstrong schon zu Beginn des Berges das Tempo verschärft, dann bei einer Attacke des Basken Zubeldia, die von den Favoriten gekontert wird. Diese beiden Aktionen bringen aber noch nicht die Entscheidung. Erst als drei Kilometer vor dem Ziel der Kasache Winokurov angreift, führt das folgende Geschehen zur Entscheidung. Ullrich pariert den Angriff und fährt auf. Lance Armstrong kann dem Tempo nicht folgen. Nach dem ersten aufgeregtem Kommentieren der ebenfalls hektischen Bilder beginnen sofort die Spekulationen über die Bedeutung des Vorsprungs und das Inszenieren der Stärke von Jan Ullrich. Verstärkt wird dieser Eindruck noch in dem Moment als Ullrich ein ehemaliges Mitglied der Spitzengruppe überholt. Der Tempounterschied wird dabei sichtbar. („Er fliegt förmlich vorbei.“) Nebenbei fährt Carlos Sastre fast unbemerkt über die Ziellinie. Natürlich werden die Bilder des jubelnden Siegers gezeigt und kommentiert aber schon Sekunden später konzentriert sich alles auf die Spitzenfahrer. Es ist klar, dass Ullrich sich absetzen konnte und nach der Entladung der Spannung folgen die Gedankenspiele über den möglichen Vorsprung und die Übernahme des Gelben Trikots. Nachdem der Einfahrt des Deutschen ins Ziel folgt sofort der gebannte Blick auf die Uhr, wann Lance Armstrong folgt und die Aufregung steigt noch einmal. Die Frage ob dieser seinen Spitzenplatz verliert, ist aber schon Sekunden später verneint, weil er sich auf den letzten Metern wieder gefangen hat und nur sieben Sekunden nach Ullrich ins Ziel kam. Nachdem auch Winokurov nur wenig später eintrifft, ist die Etappe quasi beendet. Die Spannung fällt rapide ab, da alle wichtigen Fragen beantwortet sind.

Es folgt eine umfangreiche Nachbereitung mit Interviews, Analysen, Ausblicken und Statistiken. Die Moderatoren sind selbst noch ganz begeistert vom Geschehen und erwähnen immer wieder die „unglaubliche Spannung“ des eben Gesehenen. Dabei wird dann auch teilweise über das Ziel hinausgeschossen. Wurde noch die ganze Zeit die komfortable Situation von Ullrich erwähnt, der nicht angreifen muss, da er im Zeitfahren als stark genug eingeschätzt wird, den Rückstand aufzuholen, verkündet Rudi Cerne plötzlich ganz unerwartet, dass Ullrich die ganze Zeit einen Angriff angekündigt hat. Auch spricht Cerne von „fünfeinhalb Stunden Hochspannung“, die trotz des spektakulären Endes der Etappe wirklich nicht zu erkennen waren. Das gewünschte Interview mit Jan Ullrich kommt nicht zustande. Der Zuschauer wird auf ein ausführliches Gespräch im abendlichen Sportstudio verwiesen und wird dafür mit dem folgendem einstündigem Feature über den Deutschen getröstet.

Diese 13. Etappe der Tour de France bildet ziemlich gut den Verlauf einer typischen Bergetappe ab. Es gibt auch immer wieder Beispiele, die etwas von dem weiter oben beschriebenen, verallgemeinerten Spannungsverlauf abweichen. Als auf dem Weg von einem Alpengipfel wenige Tage zuvor der Mitfavorit Joseba Beloki stürzte und Lance Armstrong beim Ausweichen von der Straße abkam und querfeldein über eine Wiese fuhr, war natürlich die Abfahrt untypischerweise extrem spannend. Aber auch wenn man den Eindruck bekommen könnte, solche Ereignisse sind bei der „legendären“ Tour de France an der Tagesordnung, bilden sie doch eher die Ausnahme. Für den Fall dass diese unvorhersehbaren Ereignisse ausbleiben, steht also diese 13. Etappe von der Spannungskurve exemplarisch für die meisten Bergetappen der Tour.

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